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Wie das Referendum gerade in die Hose ging

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Es ist Wahlkampfzeit in Großbritannien. Die Parteien rüsten für die Regionalwahlen im Mai, und auf diese Art und Weise kommen die Bürger in den Genuss, auch ihre lokalen Abgeordneten kennenzulernen. Die Damen und Herren gehen in diesen Wochen von Tür zu Tür. Klinken putzen heißt auf Englisch etwas stilvoller „canvassing“. Vor ein paar Tagen stand also unser lokaler Abgeordneter von der Labour Party vor der Tür. Er heißt Arjun Mittra und ist ein sehr freundlicher Mensch. Die Frau des Hauses öffnete ihm, er sagte seinen Spruch auf, und sie – etwas in Eile – sprach daraufhin, dass er gar nicht weiter reden müsse. Er würde sowieso unsere Stimme kriegen. Der Labour-Mann war darüber erst verblüfft und sofort danach höchst erfreut. Mittra war offenbar größeren Widerstand gewohnt.

Sie haben es nicht leicht, die Politiker in Zeiten des Wahlkampfs. Gerne werden sie verwechselt mit Abgesandten von religiösen Organisationen. Die hatten und haben es auch nicht leicht. Ein alter Freund pflegte sich früher die Botschaften von Mormonen oder Zeugen Jehovas an der Tür stets überaus stoisch anzuhören und auf die in den 80-er und 90-Jahren populäre Frage „Kennen Sie den Sinn des Lebens“ profan zu antworten: „Gegenfrage – regnet’s morgen?“.

Der Labour-Mann zog jedenfalls ohne Gegenfrage glücklich wieder ab. Das ist schon was in diesen Tagen der politischen Unruhe in Großbritannien. Das Klima nämlich gerade sehr giftig wegen Wahlen und vor allem wegen des EU-Referendums Ende Juni. In der vergangenen Woche einigten sich die beiden Fraktionen Leave und Remain nur für den Geburtstag der Queen auf einen kurzen Waffenstillstand. Hernach gingen sie wieder aufeinander los. Auch Obama hat Partei ergriffen. Er will natürlich, dass die Briten in der Union bleiben. Dafür wurde der US-Präsident von den Brexit-Leuten gepeitscht. Sie sagten, es ginge ihn nichts gar an und er solle sich gefälligst aus der Debatte raushalten.

Wobei es eigentlich nicht mal eine richtige Debatte ist. Es ist vielmehr eine veritable Schreierei auf beiden Seiten. Um die Gemüter etwas zu beruhigen, kamen einige in London lebende Festland-Europäerinnen auf eine sehr hübsche Idee. Sie gründete die Initiative „Hug a Brit“. In Britannien lebende EU-Bürger sollen die Insulaner umarmen, damit ihre Sympathie und Nähe bekunden und die Briten gewissermaßen an den Kontinent binden. Viele englische Zeitungen und so gut wie alle Fernsehstationen berichteten darüber. Eine geschätzte Kollegin umarmte im Frühstücksfernsehen der BBC sogar den UKIP-Chef Nigel Farage, den obersten aller Anti-Europäer. Farage guckte, als habe er sich soeben mit einer schlimmen Krankheit angesteckt. Aber da war es auch schon passiert und zu spät, und Milde legte sich auf sein Gesicht. Denn Farage mag zwar die EU verabscheuen, aber er mag eben auch die Frauen.

Solche Aktionen nehmen der bitteren Diskussion die Spitze.

Gerade gab es im Übrigen schon ein Referendum, eine Art Generalprobe; sie ging nach hinten los. Die Briten waren vom „Natural Environment Research Council“ aufgefordert worden, einen Namen für ein neues arktisches Forschungsschiff zu finden. Sie stimmten tatsächlich massenweise ab und zwar sehr britisch. Am Ende gewann mit überwältigendem Vorsprung der gleichermaßen schöne wie komplett sinnfreie Name „Boaty McBoatface“. Ein pensionierter Moderator hatte ihn spaßeshalber ersonnen. Auf den Plätzen landete „It’s bloody cold out there“, was angesichts der Reiserouten des neuen Schiffs durchaus gepasst hätte. Auch im Rennen: „David Attenborough“ und „Ice Ice Baby“ und „I Like Big Boats & I Cannot Lie“. Aber am Ende wurde es eben doch „Boaty McBoatface“.

Es hätte schlimmer kommen können. Vor ein paar Jahren wollte die Getränkefirma Mountain Dew einen neuen Namen für einen Softdrink sehr demokratisch durch die Netzgemeinde ermitteln lassen. Die Aktion wurde dummerweise von Aktivisten gekapert, und es gewann deutlich „Hitler did nothing wrong“. Die Firma entschied sich aus nachvollziehbaren Gründen dagegen. Etwas mehr Glück hatte „Greenpeace“ mit der Namensgebung für einen von japanischen Walfängern bedrohten Buckelwal. Der Meeressäuger heißt nunmehr recht putzig „Mr. Splashy Pants“.

In der Causa „Boaty McBoatface“ ist es nun so, dass das der neue Kahn mit hoher Wahrscheinlichkeit einen seriösen, also langweiligen Namen bekommt. Das Forschungsministerium kann sich nicht dazu durchringen, den Polarkreuzer wie einen Kinder-Comic zu nennen. Der zuständige Minister sagt, das Boot sei langlebiger als eine Social-Media-Kampagne. Demokratie hin, Demokratie her. Die Wähler kämen und gingen, Arktis und Schiff aber blieben.

Das ist kein ganz dämliches Argument.

David Cameron sollte darüber nachdenken, ob er nicht im worst case ähnlich handeln sollte. Falls die Outisten am 23. Juni tatsächlich gewinnen, könnte er mit identischer Argumentation behaupten: „Die Nörgler kommen und gehen. Aber Europa ist wichtiger und langlebiger als Brexit und Nigel Farage. Wir bleiben. Basta.“

Ich bin kein großer Fan von David Cameron. Aber dafür würde ich ihn glatt umarmen.

P.S. in eigener Sache: Die „Blogs“ werden abgeschafft und erscheinen in Zukunft irgend woanders auf dieser Seite. Dies war also nach zwei Jahren und hundert „Last Calls“ aus dem britischen Alltag die letzte Kolumne von mir – zumindest an dieser Stelle. Wer „Last Call“  weiter lesen möchte, kann sich hier den RSS-Feed eintragen. Ich möchte mich bei allen Lesern bedanken, die sich mal freundlich, mal kritisch und zuweilen sogar euphorisch mit ihren Kommentaren beteiligt haben.

In diesem Sinne beste Grüße aus London. Und vielleicht bis bald


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